
Vielleicht wurde auch dir schon die Frage gestellt: „Habt ihr es denn nicht testen lassen?“ Für Mütter von Kindern mit Behinderung sind diese Worte verletzend und unerträglich. Warum dieser Satz ein absolutes No-Go ist und wie du darauf antworten kannst, erfährst du hier.
Eins vorweg: Als Mutter eines Jungen mit Down-Syndrom bin ich bislang fast ausschließlich auf freundliche und wertschätzende Reaktionen gestoßen.
Kaum einmal habe ich das Gefühl gehabt, mein Kind sei nicht willkommen. Und doch wurde sie auch mir schon gestellt – die Frage: „Habt ihr es denn nicht testen lassen?“
Ich teile hier 10 (von ungefähr 100.000) Gründen, warum diese Frage ein No-Go ist – und bitte schön niemals wieder gestellt werden sollte.
Grund 1: Diese Frage spricht Menschen mit Behinderung ihr Grundrecht auf Leben ab
„Jeder hat das Recht auf Leben“, so steht es in Artikel 2 unseres Grundgesetzes. Wer Eltern eines Kindes mit Behinderung fragt, ob sie keine pränatale Untersuchung haben machen lassen, der stellt dieses Grundrecht in Frage.
“Habt ihr es denn nicht testen lassen?” bedeutet nichts anderes als: Ihr hättet es vorher wissen und die Schwangerschaft beenden können. Und damit verbunden ist die Grundannahme, dass ein Mensch mit Behinderung kein Recht auf Leben hat.
Grund 2: Es ist die schlimmste Art, andere Menschen zu verletzen
Wie gerade erwähnt, lässt die Frage “Habt ihr es denn nicht testen lassen?“ nur eine Schlussfolgerung zu: Wenn ihr es gewusst hättet, hättet ihr euer Kind abtreiben lassen können.
Übersetzt lautet die Frage also: „Warum habt ihr euer Kind denn nicht töten lassen?“ So viel Empathielosigkeit muss man erst mal schaffen. Mir jedenfalls fällt keine schlimmere Art ein, jemand anderen zu verletzen.
»Wer Eltern eines Kindes mit Behinderung fragt, ob sie es nicht haben testen lassen, fragt sie: Warum ist dein Kind am Leben?’«
Grund 3: Wer diese Frage stellt, zeigt, wie unwissend er ist
Heute gibt es den Bluttest, der mit einer an 100 Prozent grenzenden Wahrscheinlichkeit eine Trisomie feststellen kann. Doch was ist mit anderen, selteneren Gendefekten?
Fakt ist: Viele Gendefekte lassen sich pränatal gar nicht diagnostizieren. Sie sind so selten, dass es hierfür schlicht keine Tests gibt.
Abgesehen davon entstehen viele Behinderungen unter der Geburt – oder durch Unfälle und Erkrankungen danach. Es gibt keinen Test auf Lebensrisiken. Wer denkt, Pränataldiagnostik kann das leisten, offenbart ein erstaunliches Ausmaß an Unwissenheit.

Grund 4: „Habt ihr es denn nicht testen lassen?“ - geschichtsvergessen und menschenfeindlich
Wer davon ausgeht, dass es lebenswertes und nicht lebenswertes Leben gibt, trifft eine Unterscheidung in “wertvolle Menschen” und “wertlose Menschen”.
Wohin ein solches Denken führen kann, haben wir in unserer Geschichte erlebt. Gerade in unserem Land, das sich der abscheulichsten Verbrechen unter anderem an Menschen mit Behinderung schuldig gemacht hat, sollte man mehr Sensibilität erwarten dürfen.
Uns allen tut es gut – besonders angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Entwicklung – Lehren aus unserer Geschichte zu ziehen und alles zu tun, damit sie sich niemals wiederholt.
Ein erster Schritt dorthin wäre, die Frage” Habt ihr es denn nicht testen lassen?” nicht mehr in den Mund zu nehmen.
»Eltern, die pränatal erfahren, dass ihr Kind eine Behinderung hat, werden vor eine schreckliche Entscheidung gestellt. Niemand darf ihnen daher das Recht nehmen, es nicht zu wissen.«
Grund 5: Werdende Eltern haben ein Recht auf Nicht-Wissen
Wer Eltern eines Kindes mit Behinderung fragt, ob sie es denn nicht hätten testen lassen, der erklärt Pränataldiagnostik zum Standard.
Die moderne Medizin kann ein Segen sein – wenn sie Leben rettet, etwa weil schon vor der Geburt erkannt wird, dass ein Kind eine Erkrankung hat.
Gleichzeitig kann sie werdende Eltern vor die schwerwiegendste und härteste Entscheidung stellen, die man sich nur vorstellen kann: Soll unser Kind leben oder entscheiden wir uns für eine Abtreibung? Nicht jeder will vor diese Wahl gestellt werden.
Werdende Eltern haben ein Recht, diese schlimme Entscheidung nicht treffen zu müssen. Sie haben ein Recht darauf, es nicht zu wissen. Und dieses Recht darf ihnen niemand absprechen.

Grund 6: „Habt ihr es nicht testen lassen?“ - Wer das fragt, weiß nicht, was Eltern widerfährt, wenn der Test positiv ist
Die meisten Eltern verlassen die pränataldiagnostische Praxis mit dem beruhigenden Befund, dass alles unauffällig ist. Puh. Hauptsache, gesund!
Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Behinderung oder ein Gendefekt festgestellt wird, ist sehr gering. Und doch sollte man nicht naiv sein und denken, dass „so etwas“ nur andere trifft. Denn auch wenn es nur in den seltensten Fällen eintritt: Niemand ist davor gefeit. Oder umgekehrt: Keine Frau denkt vorher, es könnte sie treffen.
Werdenden Eltern wird oft empfohlen, zur Pränataldiagostik zu gehen, „nur um auszuschließen, dass was ist“. Als könnte die bloße Tatsache, dass ein Kind vorgeburtlich untersucht werden kann, verhindern, dass es eine Behinderung hat.
Wenn aber doch „was ist“, dann berichten viele Eltern, dass sie stark unter Druck gesetzt wurden: Einseitig wurde ihnen die Abtreibung nahegelegt und das unter enormem Zeitdruck. Eine offene Beratung über alle Optionen? Meistens Fehlanzeige.
Wer Eltern von Kindern mit Behinderung fragt, ob sie es denn nicht haben testen lassen, negiert die oft traumatisierenden Folgen, die eine pränatale Untersuchung nach sich ziehen kann.
Grund 7: Wer diese Frage stellt, verurteilt Eltern, die ihr Kind so lieben, wie es ist
Stell dir vor, dein Kind hat eine Behinderung – und du liebst es trotzdem?
Was eigentlich keine große Sache sein sollte, erscheint vielen Menschen offenbar unvorstellbar. Warum sonst würden sie Eltern eines Kindes mit Behinderung die Frage stellen, ob sie es nicht haben testen lassen?
Niemand wünscht sich, dass das eigene Kind eine Behinderung hat. Aber wenn es so ist, bedeutet das doch nicht, dass von nun an Leid und Schmerz über die Familie hereinbrechen. Das Leben mit einem Kind mit Behinderung ist bereichernd, erfüllend und wunderbar.
Wie wäre es, betroffene Eltern stattdessen danach zu fragen?
»Pränataldiagnostik verhindert nicht, dass ein Kind eine Behinderung hat. Es gibt keine Garantien im Leben – daran ändert auch die moderne Medizin nichts.«
Grund 8: „Habt ihr es denn nicht testen lassen?“ offenbart ein fragwürdiges Leistungsdenken
Ein weit verbreiteter Gedanke ist: Menschen mit Behinderung oder Pflegebedürftigkeit fallen zur Last. Sie kosten den Steuerzahler Geld. Und sind häufig selbst nicht in der Lage, durch eigene Erwerbsarbeit ihren Beitrag zu leisten.
Wenn das nicht ein Grund ist, schon im Mutterleib auszusortieren, wer nicht unserem gängigen Leistungsideal entspricht?
Eine Einteilung in “leistungsstark = wertvoll” und “nicht leistungsstark = wertlos” ist menschenfeindlich (siehe Grund 4).
Wer sich dennoch bemüßigt sieht, betroffenen Eltern diese Frage zu stellen, der sei daran erinnert: Nicht die Leistungsfähigkeit oder Produktivität eines Menschen entscheidet über seinen Wert. Behinderung kann jeden treffen. Jederzeit.
Also noch mal: Jeder Mensch ist wertvoll. Jedes Leben ist lebenswert. Wäre schön, wenn das endlich ankommen würde.
Grund 9: Diese Frage steht für Wegwerfmentalität & Achtlosigkeit
Diese Frage offenbart ein Ausmaß an Achtlosigkeit, das in unserer modernen Wegwerfgesellschaft weit verbreitet ist.
Etwas gefällt nicht mehr, sieht nicht mehr so schön aus, wird nicht mehr benötigt? Weg damit. Schicken wir es portofrei zurück und holen einfach etwas Neues!
Du denkst, das lässt sich doch nicht auf Menschen übertragen? Dann wärst du überrascht, wie viele Eltern die „tröstenden“ Worte hören: „Ihr könnt es doch noch mal versuchen!“ oder „Ihr habt doch schon ein gesundes Kind!“
Ein Mensch ist ein Mensch. Er lässt sich nicht ersetzen durch einen anderen. Daran ändern auch Testverfahren nichts.
Grund 10: Es gibt keine Garantien!
Auf die Frage “Habt ihr es denn nicht testen lassen?” folgt gerne der Zusatz: “So was muss doch heute nicht mehr sein!”
Beide Aussagen basieren auf einer verheerenden Fehlannahme. Nämlich, dass es so etwas wie eine Garantie für ein sorgenfreies, unbeschwertes Leben gibt. Einfach noch zur Pränataldiagnostik und ausschließen, dass “was ist”. Und dann wird alles gut.
Wir können heute so viel untersuchen. So viel messen und vorhersagen. Und wiegen uns in Sicherheit. Das Leben erscheint uns dadurch beherrschbarer. Kontrollierbarer. Doch diese Sicherheit ist trügerisch.
Denn die Wahrheit ist: Es gibt im Leben keine Garantien. Niemals. Vielen scheint das tatsächlich nicht klar zu sein, deshalb wiederhole ich es an dieser Stelle: Behinderung kann jeden treffen. Jederzeit.

Was antwortest du, wenn man dir diese Frage stellt?
Du wirst dich vielleicht fragen, ob man darauf ernsthaft etwas antworten sollte. Die Frage ist berechtigt. Aber es ist eben auch komplex.
Ich würde sagen, es kommt darauf an, wer dich aus welchem Beweggrund heraus fragt, ob du dein Kind nicht pränatal hast untersuchen lassen. Manchmal stecken hinter der Frage keine bösen Absichten, sondern Unbeholfenheit und Gedankenlosigkeit (was ich nicht entschuldigen will).
Wir alle wünschen uns eine inklusive Gesellschaft, die unsere Kinder willkommen heißt und so akzeptiert, wie sie sind. Das gelingt nur, wenn wir nicht aufhören, miteinander zu reden.
Menschen, die nicht in unserer Situation sind, können sich häufig nicht vorstellen, wie es ist. Viele von ihnen sind aber durchaus in der Lage, Empathie aufzubringen.
Ihnen kannst du mit einer Gegenfrage antworten:
- “Was genau willst du mit dieser Frage sagen?”
- “Was würdest du an meiner Stelle auf diese Frage antworten?”
- “Was glaubst du, wie sich diese Frage für mich anfühlt?”
Manchmal reicht ein kleiner Anstoß, um ins Nachdenken zu kommen. Künftig erst zu überlegen, bevor man eine kränkende Frage raushaut. Oder im besten Fall: um einen ehrlichen, interessierten Austausch zu beginnen, der uns alle weiterbringt.
Ach ja, und sollte es doch so sein, dass dir jemand diese Frage stellt, mit dem sich das Reden nicht lohnt, dann gibt es nur eine passende und vor allem wahre Antwort: “Das geht dich nichts an.”
Schütze dich vor empathielosen Kommentaren!
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Über die Autorin
Ich bin Alexandra, Mutter von Zwillingen – eins meiner Kinder hat das Down-Syndrom. Meine Mission ist es, Mütter von Kindern mit Besonderheit auf ihrem Weg zur Resilienz zu unterstützen. Damit sie die Kraft und Ausdauer haben, die es braucht, um Berührungsängste abzubauen und ihren Kindern einen Platz in der Mitte der Gesellschaft zu erobern. >> Mehr über mich
Ich denke auch, dass es wichtig ist, zu wissen, welche Möglichkeiten man hat, wenn man schwanger ist. Auf diese Weise kann man sich gut auf die Ankunft des Babys vorbereiten. Ihre eigene Gesundheit und die des Babys ist natürlich das Wichtigste.
Meine Schwester sucht derzeit eine vertrauenswürdige Frauenarztpraxis. Mit ihrer letzten war sie leider nicht so zufrieden. Bei ihr soll es genau auch um die Pränataldiagnostik gehen.