
Inklusion gelingt nur, wenn sich die Mehrheit der Gesellschaft dafür einsetzt. Doch oft scheitert das an Berührungsängsten – die durch fehlende Erfahrung im Umgang mit Menschen mit Behinderung entstehen. Warum Berührungsängste am Ende allen schaden und wie es gelingt, sie abzubauen – darauf gebe ich in diesem Beitrag Antworten.
Niemand ist frei von Berührungsängsten
Wer kennt das nicht?: Das Gefühl der Verunsicherung, wenn ein Mensch mit geistiger Behinderung in den Bus einsteigt und sich neben einen setzt.
Diese Unsicherheit entsteht, weil wir Sorge haben, in eine Situation zu geraten – noch dazu in der Öffentlichkeit – mit der wir nicht umzugehen wissen.
Und wir wissen es nicht, weil den meisten von uns die Erfahrung fehlt, weil wir zu wenig in Kontakt kommen mit Menschen, die eine Behinderung haben.
Niemand ist frei von Berührungsängsten. Sie einander zum Vorwurf machen, bringt nicht weiter. Viel wichtiger ist doch die Frage, wie wir sie abbauen und überwinden.
»Inklusion – den einen ermöglicht sie Teilhabe. Den anderen schenkt sie das Gefühl, im Fall des Falls von einer sorgenden Gemeinschaft aufgefangen zu werden.«
Wie Mütter von Kindern mit Besonderheit Berührungsängste erleben
Ich kenne die oben beschriebene Verunsicherung aus einem Leben, in dem mir selbst die Erfahrung mit dem Thema Behinderung fehlte. Heute sehe ich dieselbe Reaktion bei anderen und erlebe sie aus der Perspektive einer Mutter, deren Kind eine Behinderung hat.
Denn ja, Berührungsängste treffen nicht nur Menschen mit Behinderung, sondern auch deren Angehörige.
Ich erlebe sie immer dann, wenn das Gespräch ins Stocken gerät, weil mein Gegenüber nicht weiß, was es sagen soll. Nachfragen oder ist das übergriffig? Dann lieber nichts sagen. Nur: Sprachlosigkeit baut keine Barrieren ab.
Ich erlebe sie, wenn mein Kind nicht eingeladen wird oder wenn andere für uns die Entscheidung treffen, dass eine Aktivität für uns bestimmt zu viel ist – und so erst gar nicht fragen, ob wir mitkommen. Meistens steckt eine gut gemeinte Absicht dahinter. Und doch ist das Ergebnis, dass wir allein zu Hause bleiben.
Berührungsängste begegnen mir immer dann, wenn der Satz fällt: „Toll, wie du das schaffst, ich könnte das ja nicht!“, hinter dem sich nichts anderes verbirgt als Mitleid – dem Zwilling der Berührungsangst.

Muss sich eigentlich jeder von Inklusion berühren lassen?
Und doch: Ich habe Verständnis. Davor, dass nicht jeder weiß, wie er reagieren soll. Wann fragt man nach? Wann ist es großzügig, Hilfe anzubieten und wann wird es übergriffig?
Ich verstehe auch, wenn Inklusion kritisch gesehen wird – etwa weil sie so ungeschickt umgesetzt wird, dass am Ende niemand davon profitiert. In unserem Schulsystem ist das leider zu oft der Fall. Inklusion sollte alle voranbringen. Und nicht alle einschränken.
Die Wahrheit ist auch: Nicht jeder hat Interesse an Inklusion, zumal wenn er nicht selbst davon betroffen ist. Muss man sich also berühren lassen von Themen wie Teilhabe und Inklusion von Menschen mit Behinderung?
Die einen haben genau darauf ein Anrecht. Die anderen wiederum dürfen in einer freien Gesellschaft selbst entscheiden, womit sie sich beschäftigen wollen – und womit nicht.
Im Fall der Inklusion ist es aber so: Nur weil nicht alle betroffen sind, heißt das nicht, dass das Thema für nicht für alle relevant ist. Denn wir alle pflegen soziale Beziehungen, haben Familien, Freundes- und Bekanntenkreise. Jeden von uns kann Behinderung treffen – direkt oder indirekt. Und zwar jederzeit. Wer sich an diesem Gedanken orientiert, lebt nicht nur bewusster und achtsamer, sondern stärkt auch seine Empathie und soziale Verantwortung.
»Berührungsängste abzubauen bedeutet, die Angst davor zu verlieren, sich wirklich berühren zu lassen.«
Wie wir Berührungsängste überwinden und Inklusion leben
Was können wir also tun, um Inklusion zu einem Anliegen aller zu machen und Berührungsängste abzubauen?
Das Problem der meisten Menschen mit Behinderung und ihrer Angehörigen ist, dass die Behinderung, die sie von außen erfahren und die struktureller Natur ist, oft am schwersten wiegt. Das beginnt bei fehlender Barrierefreiheit, geht über die Ablehnung von notwendigen Hilfsmitteln – oft überhaupt erst Voraussetzung für Teilhabe – und endet bei Vorurteilen und ableistischem Denken.
Behinderung, Krankheit und Pflegebedürftigkeit bedeutet sehr oft: unsichtbar zu werden. Und diese Unsichtbarkeit führt zu Rückzug, zu Ausgrenzung – und in der Konsequenz zu Berührungsängsten.
Die können wir nur abbauen, wenn wir auch im Privaten etwas gegen die Unsichtbarkeit unternehmen. Das fängt damit an, dass Menschen hinsehen statt anzustarren (und dann schnell wegzuschauen). Jeder darf sich fragen: Wo kann ich helfen und mal eben mit anpacken? Wie können wir Begegnungen schaffen, die unsere Perspektive auf die Welt erweitern?
Inklusion lebt außerdem davon, dass wir miteinander sprechen. Darüber, was jeder Einzelne braucht, damit eine Gemeinschaft entstehen kann. Eine Gemeinschaft, die alle trägt.
Berührungsängste abzubauen ist letztendlich die Frage, wie weit wir aufeinander zugehen möchten, wie nah wir auch ernste Themen an uns heranlassen wollen. In was für einer Welt wir leben wollen. Und was jeder von uns beitragen kann. Warum? Weil Inklusion alle stärker macht: Den einen ermöglicht sie Teilhabe, den anderen schenkt sie die Gewissheit, im Fall des (gar nicht so unwahrscheinlichen) Falls von einer sorgenden Gemeinschaft aufgefangen zu werden.

Inklusion bedeutet Menschlichkeit
Mein Sohn mit Down-Syndrom und ich steigen in einem großen Kaufhaus in den Aufzug. Dort begegnen wir einer hochbetagten Frau, die zerbrechlich wirkt und irgendwie bekümmert.
Plötzlich nimmt mein Sohn ihre Hand und sieht sie an. Ihre Gesichtszüge verändern sich, werden weich. Schnell legt sie ihren Arm um ihn, drückt ihn einmal kurz an sich. Beide lächeln. Die Fahrstuhltüren öffnen sich. Die alte Dame flüstert ihm zu: “Danke” und steigt aus.
Ein flüchtiger Moment, und doch lässt er mich spüren, welche Kraft in der Menschlichkeit liegt. Wenn wir sie zulassen. Und wenn wir die Angst davor verlieren, uns wirklich berühren zu lassen.
Trage dazu bei, dass wir sichtbar werden
Wir stärken die Inklusion und tragen dazu bei, Berührungsängste abzubauen, indem wir hinsehen, statt wegzuschauen, miteinander reden anstatt zu schweigen. Mache den Anfang und teile diesen Beitrag mit einer Person, die ihn unbedingt lesen sollte.

Über die Autorin
Ich bin Alexandra, Mutter von Zwillingen – eins meiner Kinder hat das Down-Syndrom. Meine Mission ist es, Mütter von Kindern mit Besonderheit auf ihrem Weg zur Resilienz zu unterstützen. Damit sie die Kraft und Ausdauer haben, die es braucht, um Berührungsängste abzubauen und ihren Kindern einen Platz in der Mitte der Gesellschaft zu erobern. >> Mehr über mich